"Er fragte sich, ob es auch anderen Schriftstellern vor ihm so ergangen war, ob Hawthorne oder George Eliot geschrieben hatten, um die Toten wieder zum Leben zu erwecken, wie Zauberer oder Alchimisten den ganzen Tag und die ganze Nacht lang gearbeitet hatten, dem Schicksal und der Zeit getrotzt hatten, um ein geheiligtes Leben wieder zu erschaffen."
Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren (München 2007, S. 135)
Nein, das Bild links ist nicht das Cover, sondern zeigt den Blick von der Plattform vor der Abteikirche auf dem Mont Saint-Michel - ein zentraler Ort in meinem neuen Roman, der ab sofort lieferbar und zu bestellen ist. Und darum geht es:
Auf der Suche nach Inspiration verbringt die Schriftstellerin Esme einige Monate in einem Kloster im Harz. Bald ist es nicht mehr ihr größter Wunsch, ihr Leben weiter wie bisher auf den Seiten zwischen zwei Buchdeckeln zu platzieren, sondern sich der Wirklichkeit zu stellen.
Ein Roman über die Macht des Schreibens und die noch größere Macht der Liebe.
Um die Spannung nicht unnötig zu erhöhen und die Quintessenz dieses Textes gleich vorwegzunehmen: Ich liebe „Von nahen Menschen und Dingen“, das neueste Buch von Hanns-Josef Ortheil. Wie übrigens auch schon zuvor „In meinen Gärten und Wäldern“, „Charaktere in meiner Nähe“ und „Kunstmomente“. Warum ist das so? Darauf gibt es eine einfache Antwort: Diese Bücher machen das Leben besser. Sie inspirieren, regen zum Nachdenken an, öffnen Wege, machen Mut, ohne sich dem Schlimmen, das in der Welt geschieht, zu verschließen.
Die Vorgehensweise dabei ist einerseits recht simpel: Hanns-Josef Ortheil schaut auf das, was sich direkt in seiner Nähe abspielt und schreibt darüber. Andererseits wissen wir spätestens seit Francis Ponge, dass dies eine hohe Kunst ist: Dinge des Alltags zu entdecken und sie in vermeintlich leichter und lockerer Form zu erfassen, dabei bis zu ihrem Kern vorzudringen. Ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, sie für andere verständlich mit Worten zu skizzieren, zum Philosophieren und Erinnern anzuregen ... und uns so ganz nebenbei daran teilhaben zu lassen, wie sich das Schauen auf die eigene künstlerische Arbeit auswirkt und ausgewirkt hat.
Philosophieren – das ist ein großer Begriff. Vielleicht zu groß, um sich an ihn heranzuwagen? Nein, diese Scheu kann man getrost ablegen, wenn man „Von nahen Dingen und Menschen“ aufschlägt. Philosophieren heißt hier, dem, was uns unmittelbar umgibt, Aufmerksamkeit zu schenken und sich oft zugleich, so ganz nebenbei, in der art de vivre zu schulen. Zum Beispiel dann, wenn Hanns-Josef Ortheil uns zum Einkaufen mitnimmt. Nein, das ist kein gehetztes durch den Supermarkt-Gerenne, bei dem schnell etwas undefinierbar Eingeschweißtes, das daheim in der Mikrowelle landet, in den Einkaufswagen geworfen wird. Für den Einkauf am Samstagmorgen auf den Stuttgarter Märkten veranschlagt Ortheil mehrere Stunden. Er lässt sich treiben, lässt sich locken, lässt sich beraten, probiert dieses, probiert jenes und gönnt sich am Ende ein Glas Sekt oder Wein. Ja, so geht Einkaufen.
Fast exotisch erscheinen einem heute die Texte, die Ortheil zu Corona-Zeiten geschrieben hat. Ist das wirklich erst wenige Jahre her? Kaum vorstellbar – und umso wichtiger, dass es Chronisten gibt, die diese Zeit protokolliert haben. Nach diesen gefühlt schweren Texten kommen leichtere Texte wie der über den Regen, das Flanieren, die Sommer in Italien und immer wieder Leseerlebnisse. Ja, so muss man sie wohl nennen, die Rezensionen, die weitere Kleinode in dieser Text-Miniatursammlung sind.
Auch wenn man dieses wunderschöne Buch gelesen hat, sollte man es nicht allzu weit wegstellen. Es lohnt sich, es immer wieder zur Hand zu nehmen, darin zu blättern, sich festzulesen. Und vergessen wir eines nicht: Aus den kleinen Dingen, die uns unmittelbar umgeben und denen wir zu oft zu wenig Aufmerksamkeit schenken, entwickeln sich die großen.
Julie Heiland „Schicksalsjahre. Die Frauen vom Neumarkt“ ullstein, 576 Seiten
Was treibt uns dazu, aus den jährlich Tausenden von Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt ausgerechnet dieses oder jenes Buch auszuwählen, von dem wir vorher meistens nicht mehr als den Klappentext kennen? Finden wir uns intuitiv in den Geschichten der Protagonisten wieder, da diese der eigenen gerade ähnelt? Oder reagieren wir auf Schlüsselwörter? Bei mir war es definitiv der Name „Dresden“, der mich beim Ullstein-Verlag Julie Heilands Roman „Schicksalsjahre. Die Frauen vom Neumarkt“ als Rezensionsexemplar anfragen ließ. Dresden – nein ich war nie dort. Bin nur mit dem Zug hindurchgefahren auf dem Weg nach Prag. Aber es ist ein Name, der bei mir Sehnsucht auslöst. Eine Sehnsucht, die größer war als der recht banal klingende Titel: „Schicksalsjahre. Die Frauen vom Neumarkt“. Fix traf das Buch ein. Der Postbote klingelte, weil der dicke Umschlag nicht durch den Briefschlitz passte. Schnell das Buch ausgepackt. Eine Augenbraue zieht sich in die Höhe nach dem Blick aufs Cover, das eine braunhaarige Frau vor blauem, leicht bewölktem Himmel zeigt, die – ja, wie soll ich es ausdrücken – neckisch in die Kamera blickt. Oben, ganz klein, die Skyline von Dresden.
Aber gut, beginnen wir mit dem Text: dem Prolog, der im Jahr 1939 angesiedelt ist. Lotte ist gerade siebzehn geworden, liegt „auf den makellos weißen, frisch geplätteten Laken von Leos Himmelbett“ und lässt sich von besagtem Leo zeichnen. Im Sommer davor hatte sie Leo zum ersten Mal gesehen. Sie saß in einem Café am Neumarkt, in dem sie „einen Krug mit erfrischendem Rhabarbersaft“ bestellt hatte und Leos „Interpretation des beschwingtem Allegro Aperto von Mozart“ lauschte. Es sind überflüssige Adjektive wie diese, die dem Roman etwas Seichtes geben. Und selbstverständlich sind auch die Klischees nicht weit. Etwa als Lottes Enkelin Hannah, die eine Affäre mit dem verheirateten Dirigenten Malte hat, zum ersten Mal Tom begegnet. Nein, es ist mehr so, dass er in sie hineinläuft und sie mit der Marmelade aus seinem Croissant bekleckert. Hannah ist wütend und schmeißt Tom mit Genuss von der Baustelle, auf der er sich kurz darauf blicken lässt und auf der Hannah arbeitet. Sie gehört zum Team, das Jahrzehnte nach Ende des zweiten Weltkrieges die Frauenkirche wieder aufbaut.
Soll das etwa so weitergehen? Nein, soll es nicht und tut es nicht. Nach der anfänglichen Schwemme von Banalitäten, nichtssagenden Adjektiven und Klischees gewinnt der Roman, räumt man ihm eine weitere Chance ein, rasch an Tiefe, was vor allem an Lottes Geschichte liegt. Sie er-/überlebt die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 durch US-amerikanische und britische Kampfflugzeuge, die Zehntausende von Menschen das Leben kostete und die Stadt in eine Trümmerlandschaft verwandelte. Lotte bleibt in Dresden. Hilft als Trümmerfrau die Stadt wieder aufzubauen. Erlebt den Beginn der DDR und dass Juden auch nach dem Ende der Naziherrschaft keineswegs in Sicherheit sind und entschädigt werden, sondern erneut verfolgt werden – nicht zuletzt auch deshalb, weil es einigen Nazis gelungen ist, durch Schlupflöcher zu entkommen und am Aufbau des neuen Staates mitzuwirken. Geschichte wiederholt sich. Das wissen wir, auch wenn wir es manchmal nicht wahrhaben wollen und (erfolglos) versuchen, dagegen anzukämpfen.
Den meisten von Julie Heilands liebevoll gezeichneten Figuren gelingt es, allen Widrigkeiten zum Trotz, auf ein Happy End zuzusteuern – was nicht für die Menschheit als solches gilt. Auch das ist eine Quintessenz, die der Roman vermittelt.
Ein Buch aus der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt (wbg) zu bekommen, ist ein Ereignis, das zelebriert werden muss. Nein, bei diesen Büchern reißt man nicht einfach ratzfatz die Folie ab, schlägt die erste Seite auf und beginnt zu lesen. Obwohl … doch, die Folie muss rasch ab. Der Kunststoff wirkt schon fast wie eine Beleidigung für den Bucheinband. Aber dann sollte das Buch erst einmal liegen bleiben. Sich entfalten. Wie ein guter Rotwein, wobei es auch keine schlechte Idee ist, sich ein Glas davon einzuschenken, bevor es soweit ist, bevor die Finger sanft über den Leinenumschlag fahren, die Augen in Ruhe all die feinen Details erfassen, die in das dunkle Blau eingewoben sind. Mehrere verschieden große Köpfe sind es, die aus einem schwarzblauen Tunnel zu kommen scheinen. Ausgearbeitet ist vor allem der Kopf im oberen Drittel, der im Profil zu sehen ist, während die anderen Gesichter, die sich frontal präsentieren und in denen die Augen vorherrschend sind, wie Planeten um ihn kreisen. „Germination“ ist der Titel dieser Lithografie aus dem Zyklus „Im Traum“ von Odilon Redon und sie schmückt das Cover der neuen Publikation „Die Welt der Träume“ von Christiane Solte-Gresser in der wbg.
Von der Antike bis zur Gegenwart – seit Hunderten, nein, seit Tausenden von Jahren, vielleicht seit Beginn der Menschheitsgeschichte gibt uns das Thema „Traum“ Rätsel auf. Es ängstigt, fasziniert uns, lässt uns in seiner Unbestimmbarkeit nach Lösungen suchen. Ein Paradoxon, klar. Denn warum wir träumen, woraus sich unsere Träume nähren und was sie uns mitteilen wollen, wenn sie es denn wollen, ist bis heute nicht geklärt. Auch nicht durch die NeurowissenschaftlerInnen. Glücklicherweise, möchte ich sagen. Denn verliert nicht vieles, ja, alles seine Faszination, wenn es erklärbar wird, entschlüsselt werden kann?
Diese Gefahr besteht beim Traum nicht. Womit aber, fragt man sich nun zu Recht, füllt Christiane Solte-Gresser die 440 Seiten ihres Buches? Mit Definitionen und wissenschaftlichen Erklärungsansätzen? Nein, im Gegenteil. Die Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes konzentriert sich in ihrer Arbeit auf die kreativen Ausformungen des Traums in Geschichten, Gedichten, Zeichnungen und Gemälden, Kompositionen, Filmen, und, und, und. So ist eine chronologische Kulturgeschichte des Traums entstanden, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, aber doch interessante Einblicke gewährt.
Das Buch lässt sich chronologisch lesen, es bereitet jedoch auch Vergnügen, es an einer x-beliebigen Stelle aufzuschlagen und zu schauen, wohin der Zufall (wenn es diesen denn gibt) einen geführt hat. Oder man schaut gezielt nach seiner Lieblingsepoche und seinen LieblingskünstlerInnen. Auf Seite 135 etwa beginnt das Kapitel über Renaissance und Frühe Neuzeit. Hier finden sich beispielsweise Bilder von Bosch, Raffael und Dürer. Das interessanteste Kapitel (okay, das mag subjektiv sein) dürfte das über das Zeitalter der Revolutionen (1780-1870) sein. Eingeleitet mit Füsslis „Nachtmahr“ sind hier Textauszüge von E.T.A. Hoffmann, Jean Paul, Heinrich Heine, Edgar Allan Poe, Emily Dickinson oder Charles Baudelaire vereint. Ach, bei diesen Namen weiß man gar nicht, wo man anfangen soll mit der Lektüre. Alles auf einmal möchte man sich einverleiben.
Der Schwerpunkt der ausgewählten Kunstwerke liegt in der westeuropäischen Kultur. Daneben finden sich aber auch Arbeiten, die – geografisch gesehen – an entfernteren Orten entstanden sind, wie die Landschaftszeichnung des chinesischen Dichters und Malers Cheng Zhengkui von 1674. Reale Landschaft oder Traumlandschaft – genau ist das nicht zu bestimmen, was wiederum typisch ist für die Thematik. Und die wiederum kommt zumindest auf flüchtige Blicke nach China, Japan, Syrien, … nicht aus, auch wenn sich uns westeuropäisch geprägten LeserInnen diese Kulturkreise nicht ohne Weiteres erschließen – was selbstverständlich kein Hinderungsgrund sein sollte, es nicht dennoch zu versuchen. Die bevorstehenden Feiertage eignen sich besonders dafür.
Die Gitarristin Laura glaubt, glücklich verheiratet zu sein. Als ihr Mann Peter stirbt, wird ihr Leben auf den Kopf gestellt. Ihr Glück entpuppt sich als Illusion, als sie erfährt, dass Peter jahrelang eine Affäre mit seiner Doktorandin hatte. Laura hat genug. Nur mit der Gitarre ihres Vaters und zwei Koffern verlässt sie ihr Zuhause in Ostfriesland und gelangt zunächst nach Groningen, wo sie ihren alten Plan umsetzen will, professionell als Musikerin zu arbeiten. In einem Club begegnet sie Corvin. Ein ehemals erfolgreicher Rockstar, der der Bühne wegen schweren Depressionen den Rücken gekehrt hat. Auch wenn er für sich keine Hoffnung mehr hat, sieht Corvin das künstlerische Potential in Laura. Er bereitet sie auf ein mehrmonatiges Gastspiel in Venedig vor, das eigentlich für ihn vorgesehen ist. Aber Corvin ist weit mehr als ein Mentor für Laura. Obwohl beide nicht damit gerechnet haben und obwohl beide denken, nicht dafür bereit zu sein, wird ihnen klar, der Liebe ihres Lebens begegnet zu sein. Doch das Timing stimmt nicht. Zu fest haben die Depressionen Corvin im Griff. Laura reist nach Venedig, um Corvins Part in der Band des irischen Musikers Will zu übernehmen. Weitere Engagements folgen, Laura arbeitet mit anderen Musikern, knüpft einen Erfolg an den nächsten - und ist gleichzeitig auf der Suche nach Corvin. Allmählich entwickeln sich eigene Songs, in denen Laura sich ausdrücken kann. Wer sie ist und wie sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen kann - das muss sie erst entdecken und lernen. Und es gelingt.
„Jedes einzelne Buch hat eine Seele. Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seelen derer, die es gelesen und erlebt und von ihm geträumt haben“, schreibt Carlos Ruiz Zafón in seinem wunderbaren Roman „Der Schatten des Windes“. So ganz nebenbei verweist er damit auf das Wesen der Rezension: Es gibt nicht die eine ultimative Kritik, nein, es gibt so viele Kritiken, wie es LeserInnen gibt. Und nicht nur das. Ich würde sogar behaupten, dass das Leseverständnis eines jeden Einzelnen von uns in Phasen unterteilt ist. Wer kennt das nicht? Da nimmt man ein Buch zur Hand und stellt es nach einigen Seiten wieder zurück ins Regal – nur um es ein paar Jahre später wieder herauszuziehen und es zu verschlingen.
Nun gut. Inzwischen stapeln sich fünf Bücher auf meinem Schreibtisch, die ich zwar pflichtbewusst (nein, nicht aus Vergnügen) gelesen habe und die auf eine Rezension warten. Aber, ganz ehrlich – ich will sie einfach nicht schreiben. Nicht mehr. Ich würde auch heute keine Rezension mehr über Maria Pourchets Roman „Feuer“ schreiben, in dem der Suizid zelebriert und gefeiert wird. Nur ein paar Sätze, die möchte ich über die folgenden fünf Bücher verlieren, bevor ich sie wegpacke. Wohin? Nun, wir werden sehen …
Unter die Rubrik „Was soll das?“ oder auch unter die Rubrik „Schöne Idee, aber leider katastrophal umgesetzt“ fallen für mich Magdalena Saigers Roman „Was ihr nicht seht oder Die absolute Nutzlosigkeit des Mondes“ aus der Edition Nautilus, „Kasse 19“ von Claire-Louise Bennett (Luchterhand) und leider auch das so vielversprechend klingende Buch „Die Lügnerin“ von Friedemann Karig (Ullstein). Deprimiert mich dieses Buch? Oder ist es einfach nichtssagend? Oder deprimiert mich dieses Buch, weil es so nichtssagend ist? Diesen Fragen stellte ich mich bei der Lektüre des Romans „Packerl“ von Anna Neata (Ullstein). Die Antworten? Sind die wirklich wichtig?
So, kommen wir zum Schluss ausführlicher zu „Schule der Winde“ von Hansjörg Schertenleib. Ich schätze seine Arbeit. Seit vielen Jahren schon, aber … Ja, dieser Satz verlangt definitiv nach einem „Aber“. Woher kommt das? Veröffentlicht er zu viel? Bekommen seine Ideen deshalb nicht mehr genügend Zeit, um wirklich zu etwas Großem heranzureifen? Ist er zu sehr mit sich beschäftigt, was in zu großem Frust begründet ist? Man könnte es vermuten bei Schertenleibs letztem Werk „Schule der Winde“. Ein ehemaliges Schulgebäude im irischen County Donegal ist es, das Schertenleib selbst jahrelang als Zuhause diente. Und jetzt, Jahre nachdem er es verlassen hat, um zuerst in die USA, dann nach Frankreich zu ziehen, fragt er sich, wie alles gekommen wäre, wenn er damals nicht mit seiner Frau S. nach Irland ausgewandert wäre, sondern allein. Ein bisschen spät kommt diese Frage. Und unnütz und unfair ist sie obendrein. Und wo führt dieses Jammern hin? Zu einer anderen Frau, einer Folkmusikerin, die auf Tournee den Geburtstag des Liebsten vergisst. Tja ...
Stoff ohne Ende, um zu jammern. Warum habe ich dieses Buch trotzdem gelesen? Eine rein persönliche Geschichte, meine rein persönliche Geschichte erklärt es. War doch Donegal lange meine zweite Heimat. Stießen Namen wie Ardara, Killybegs, Sligo, Bundoran und Belfast etwas in mir an. Brachten Seiten zum Klingen, die die Melodie meiner eigenen Geschichte untermalten und die tiefen Molltöne, die Hansjörg Schertenleibs Geschichte unterlegen, übertönten. Macht das ein Buch zu einem guten Buch? Ich denke nicht.
Margit und Oda – unterschiedlicher können zwei Frauen nicht sein. 1945 gelingt Margit als Kind mit ihrer Mutter und Bruder Hans auf einem Schiff die Flucht von Ostpreußen nach Stralsund. Als eine Frau mit ihrem Säugling von Bord springen will, rettet sie das Kind und kümmert sich in den folgenden Jahren um Horst. Margit bleibt im Osten Deutschlands, heiratet Ronald, bekommt Sohn Jan, erlebt den Anfang und den Aufbau der DDR – und ist begeistert. Oda hingegen hat nur ein Ziel: Wie ihr Vater es bereits Jahre vorher getan hat, will auch sie die DDR verlassen, was sie 1970 mit ihrem Freund Jürgen plant. Die Flucht scheitert, Oda landet in der Haftanstalt Hoheneck, wo sie ihr Kind bekommt. Und wieder verliert. Es wird in einer Familie aufwachsen, die nichts mit dem Westen am Hut hat und nicht im Traum daran denkt, die ostdeutsche Heimat zu verlassen.
Und dann ist da Jan, Margits Sohn, dessen Geschichte in der Gegenwart, im Berlin des Jahres 2022 erzählt wird. Von seiner Frau Gesa ist Jan getrennt, worunter vor allem der gemeinsame kleine Sohn Cornelius leidet. Und als ob das alles noch nicht reicht, bekommt er einen Anruf aus der Heimat. Aus Rügen. Es gibt Probleme mit seinem Vater Ronald, den Jan schon lange nicht mehr gesehen hat. Seit Margits Tod. Mit ihrem Bruder Hans soll sie 1991 bei einem Autounfall in Chile ums Leben gekommen sein. Abgereist ist sie, ohne sich von ihrem Sohn zu verabschieden. Und dann, 30 Jahre später, wird nach einem Abbruch an Rügens Steilküste der Leichnam einer Frau gefunden, die Margits Uhr trägt.
Es ist eine komplexe Geschichte, die Liv Marie Bahrow aus unterschiedlichen Perspektiven in ihrem Roman „Wellenkinder“ erzählt. Ein großes Unterfangen, das grandios umgesetzt wurde. Leichtfüßig springt die Autorin von einer Perspektive in die andere, von einer Zeit in die nächste, von einem Handlungsort zum anderen. Und sie wird dabei allen Komponenten gerecht. Ihr gelingt es, aus allen Zeitebenen und Handlungsorten Prägnantes herauszufiltern und einzuarbeiten. Und zwar in genau der richtigen Dosierung, sodass man beim Lesen nicht mit Informationen überflutet wird und die Handlung stets im Vordergrund steht.
Die Handlung, sie räumt mit Klischees und gängigen Denkmustern auf. Regt zumindest zum Nachdenken über etwas an, das viel zu viele Menschen viel zu oft als gegeben hinnehmen und akzeptieren. Etwa der Mutterbegriff. Ist eine Mutter bereits eine Mutter, nur weil sie einen geboren hat? Oder muss sich dieser Begriff erst mit Sinn füllen? Dadurch, dass jemand für einen da ist, sich Sorgen und Gedanken macht, Opfer bringt, das eigene Ego zurückstellt? Ja, zig Romane wurden bereits über dieses Thema geschrieben. Und doch … Liv Marie Bahrow schafft es, die Karten neu zu mischen und dem Thema neue Facetten abzugewinnen. Einziger Kritikpunkt: Am Ende wird es ein wenig zu kuschelig. So kuschelig, dass das durchs Lesen bedingte Wohlgefühl leicht in Schieflage gerät. Ich finde es immer gut, seine Leser*innen nicht in tiefster Verzweiflung zurückzulassen. Zu viel Harmonie nimmt dieser jedoch die Glaubwürdigkeit.
Lassen Sie mich in dieser Besprechung mit Frankreich, nein, mit der Bretagne beginnen. Auch wenn die „Donnerstagsmordclub“-Reihe so typisch englisch ist. Auch wenn Frankreich und England … nein, das würde dann doch zu weit führen. In die Bretagne fährt man mit dem Auto. Das war schon immer so, das ist so und wird immer so sein – wenn die Bretagne denn mein Reiseziel bleibt. Als die neue Côte d‘Azur wird sie bereits gehandelt. Aber nun gut … kommen wir zur letzten Fahrt in die Bretagne, genauer gesagt zum Halt an einer Tankstelle. Einmal das Fahrzeug vollgetankt, wie der Mann an der Zapfsäule nebenan es mit seinem Wohnmobil macht. Der Mann – englischer geht es kaum. Groß, schlank, gerade Haltung, silbrig-weiße, leicht wellige Haare, ganz in Weiß gekleidet, als sei er auf dem Weg zu einem Cricket-Turnier. Und, ja, ich vergewissere mich: Das Kennzeichen des Wohnmobils ist ein englisches. Zum Kassenhäuschen gehen wir gemeinsam, plaudern über das unerwartet sonnige Wetter, sehen gleichzeitig das Schild im Kassenhäuschen: Keine Kartenzahlung möglich. Panik überfällt mich. Ich werde die Tankfüllung in bar nicht bezahlen können. Gibt es im Auto irgendwelche vor langer Zeit angelegten Geldverstecke? Kann das Benzin wieder abgepumpt werden? Schaffe ich es zur nächsten Tankstelle? Zu einer, an der ich mit Karte bezahlen kann? Ruft die Frau an der Kasse gleich die Gendarmerie? Ich schaue auf den Mann neben mir. Sein Wohnmobil muss mehr Benzin verschluckt haben als mein Peugeot. Überlegt auch er bereits panisch, wie er aus dieser Situation herauskommen soll? Nicht so ganz. „Wie wunderbar“, ruft er und lacht. „Dann habe ich eine Tankfüllung umsonst bekommen.“
Das Leben kann so einfach sein. Als Engländer. Schon oft habe ich dieses Völkchen (ja, ich werde jetzt pauschalisieren) um seine Gelassenheit beneidet. Und diese wunderbare Eigenschaft zeichnet auch die Mitglieder des Donnerstagsmordclubs aus, die Richard Osman mit „Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel“ in die dritte Runde schickt. Besagter Club besteht aus Joyce, Elizabeth, Ibrahim und Ron, die allesamt in der Grafschaft Kent, genauer gesagt in der Seniorensiedlung Coopers Chase wohnen, wo sie sich ihrem Hobby widmen: Ungelöste Kriminalfälle lösen. Im dritten Band geht es um die bereits vor zehn Jahren getötete Journalistin Bethany Waites, deren Leiche jedoch nie gefunden wurde. Es geht um Steuerbetrug, Geldwäsche und um weitere Morde. Elizabeth und ihr Mann Stephen werden entführt, erpresst. Joyce soll umgebracht werden, kann sich aber mit einer Tasse Tee aus der Affäre ziehen. Dann taucht ein ehemaliger KGB-Agent auf, und, und, und.
Mangelnde Fantasie kann man Richard Osman gewiss nicht vorwerfen. Dafür aber mangelnde Sorgfalt. Leider. Kaum etwas schmälert das Lesevergnügen mehr als logische Fehler. Kaum etwas katapultiert einen schneller aus einer Geschichte. Als etwa Elizabeth und Stephen mitten in der Nacht in der Einöde freigelassen werden, ist der Akku ihres Handys leer. Sie finden eine Telefonzelle, von der aus sie ihren Freund, den Polizisten Bogdan, anrufen, damit er sie abholt. Gleich beim ersten Klingelzeichen geht Bogdan ans Telefon. Er erkennt die Nummer. Der Telefonzelle im Nirgendwo? Bogdan ist auch im Zimmer, als Joyce später den mit einer Tasse Tee (und Viktors Schlaftabletten) betäubten Entführer, der sie umbringen wollte, präsentiert. Vier Seiten später betreten zwei Männer den Raum, einer von ihnen ist … Bogdan. Sollte man diese Fehlerchen mit einer lässigen englischen Geste vom Tisch fegen? Ich finde … nein, das sollte man nicht. Band vier soll übrigens auch noch in diesem Jahr erscheinen. Band fünf, sechs, sieben, … werden gewiss rasch folgen. Nun, schauen wir mal … Englische Lässigkeit hat ihren Reiz, gewiss. Ausgewalzt auf über 400 Seiten, womöglich in zig Bänden, ist es jedoch … ermüdend.
"Sams Cottage: Die Geschichte von Guinness und Sparky" erschien vor ziemlich genau drei Jahren. Die Titelhelden gab es wirklich. Wir trafen sie zum ersten Mal vor vierzehn Jahren bei unserem ersten Aufenthalt in Sandfield in Donegal. Jahr für Jahr waren die beiden ein wichtiger Grund, sich auf den Nordwesten Irlands zu freuen. Inzwischen sind Guinness und Sparky im Hundehimmel. Vor kurzem schickte mir eine Leserin ein wunderschönes Bild mit einem wahren Spruch: Dogs leave paw prints on your heart. Wie wahr!
Ob Kleinstadt, ob Großstadt. Ob im Restaurant, im Zug oder beim Spazierengehen. Ob alt oder jung, ob allein, mit Hund, mit Kind, mit Freunden, … was wären diese Momente, ohne sie mit dem Mobiltelefon zu teilen? Irgendwann gibt es das Kleine im Kinderwagen auf, Blickkontakt mit der Mutter zu suchen. Hält der Hund lieber Ausschau nach Artgenossen, als die Aufmerksamkeit von Herrchen oder Frauchen auf sich zu lenken. Mich deprimieren solche Anblicke. Wo sind sie hin, die Flaneure? Die Spaziergänger, die schauen, die neugierig sind, die entdecken, das Gesehene genießen … und ihr Handy, sofern sie denn eines besitzen, zu Hause gelassen haben.
Aber, es gibt sie noch: die Spezies „Flaneur“. Die aufmerksamen Genießer, die ihre Umgebung wahrnehmen, sie in sich einsaugen, sie verarbeiten, sie in ihre Kunst einflechten, Kunst aus ihr entstehen lassen. Einer von ihnen ist Hanns-Josef Ortheil, der dem Sehen und Schauen sein neues Buch „Kunstmomente“ gewidmet hat und damit der Genießerserie (ich gebe ihr einfach mal diesen Namen) nach „Italienische Momente“, „Musikmomente“, „Glaubensmomente“ und „Glücksmomente“ einen weiteren Band hinzugefügt hat.
Bereits veröffentlichte Texte und neue Texte widmen sich auf 352 Seiten dem Thema „Schauen“. Eine sehr geballte, anspruchsvolle Ladung, die nicht unbedingt in strenger Reihenfolge von der ersten bis zur letzten Seite gelesen werden muss. Die ersten Kapitel widmen sich dem kindlichen Schauen, konkret dem Entdecken des kleinen Hanns-Josef Ortheil, der mit Fernglas aus dem Fenster der elterlichen Wohnung auf den Kölner Erzbergerplatz schaut. Ergänzt wird das Schauen auf das direkte Umfeld zuerst durch das Ausschneiden und Aufkleben von Fotos aus Zeitungen und Zeitschriften, wodurch ein Gefühl für Zeit entsteht, dann durch das eigene Fotografieren. Interessant ist der Aspekt, der im vierten Schritt des Schauens wichtig wird und eine weitere Komponente mit einbringt: „die Wiederbelebung eines vergangenen Moments“, wie Ortheil es nennt. Mit der Hilfe eines Fotos kann sich der Betrachter auf eine Zeitreise begeben – sowohl an einen Ort, an dem er selbst einmal war, als auch in eine Zeit, die vor seiner eigenen Geburt lag. Ortheil unternimmt solche Zeitreisen mit klassischen Familienfotos. Akribisch listet er hier Details auf, dechiffriert die Zeichen, die in ihnen verborgen sind, und kreiert dabei den Rahmen für eine Geschichte, für mehrbändige Familienromane.
Eingewoben in die eigene Geschichte und die eigenen Erfahrungen des Sehens sind philosophische Diskurse, etwa Roland Barthes Ausführungen zur Fotografie, denen die Kulturanalyse von Georg Simmel gegenübergestellt wird. Und schon geht es weiter mit dem Fotografen August Sander und seinem Projekt, Angehörige verschiedener Gesellschaftsschichten, vor allem im Westerwald, zu porträtieren. Ein Foto, das den alten August Sander zeigt, aufgenommen von Imogen Cunningham, diente Ortheil als Inspiration für eine seiner Figuren in seinem Erstlingswerk „Fermer“.
Nach Köln und dem Westerwald wird das Schauen ausgedehnt – auf andere Plätze, andere Städte und Länder. Auf Kirchen, Museen, Galerien und Ateliers, aufs Kino, auf Athen, Rom, Venedig, Paris. So detailliert, so lebendig, so begeistert geschieht das – man möchte sofort selbst an diese Orte fahren. Gegen die aufkommende Traurigkeit darüber, dass das nicht sofort geschehen kann, gibt es zwei Mittel: die Lektüre der „Kunstmomente“ und die eigene Phantasie! Beides zusammen ist eine unwiderstehliche Kombination.
Da denkt man, ein Mensch des Wortes zu sein – und vertieft sich dann doch zuerst in die Illustrationen. Nun, die Bildsprache ist ja bekanntlich älter und tief in uns verwurzelt, was sich bei solchen Gelegenheiten einmal wieder herausstellt. Von welcher Gelegenheit ich spreche? Von dem wunderschönen Buch „Schreibwelten“ von Alex Johnson, illustriert von James Oses, erschienen in der Übersetzung von Birgit Lamerz-Beckschäfer im Verlag wbg Theis.
Bücher wie diese sind ein Schatz, die das Herz eines jeden Buchliebhabers höher schlagen lassen. Es ist ein feierlicher Moment, erst einmal nur das mintgrüne Cover zu betrachten, in das eine Zeichnung von Sylvia Plaths Arbeitszimmer in Devon eingebettet ist. Der Schreibtisch aus Ulmenholz steht im ersten Stock vor dem Fenster, das auf die mittelalterliche St. Peter‘s Kirche und eine alte Eibe zeigt. Bestimmt wird das Bild jedoch von der hellgrünen Hermes 3000, in der ein bereits zur Hälfte beschriebener Bogen Papier steckt. Links neben der Schreibmaschine sind handschriftliche Notizen und ein aufgeschraubter Füllfederhalter zu sehen, rechts davon eine gefüllte Kaffeetasse und eine Blumenvase mit rotem Mohn. Vier Blütenblätter sind auf das Holz gefallen. Es sind Details wie diese, die den Charme der Illustrationen ausmachen – und uns viel über die Autorin sagen, die an diesem Platz gearbeitet hat.
Insgesamt 50 solcher Arbeitsplätze stellen uns Alex Johnson und James Oses in diesem Kleinod von Buch vor. Abgesehen davon dass man es persönlich kaum schaffen würde, all diese Orte zu besuchen, befinden sich die meisten in Privatbesitz und sind der Öffentlichkeit verschlossen. Aber es gibt Ausnahmen wie Sissinghurst Castle in Kent. 1930 kauften Vita Sackville-West und ihr Mann Harold Nicolson das Schloss, das sich heute samt seiner Gärten im Besitz des National Trust befindet und zu besichtigen ist. Wie Vita Sackville-Wests Schreibzimmer im Turm, das James Oses wieder sehr detailliert illustriert hat. Auch die Fotografien von Ehemann Harold und Vitas Geliebten Virginia Woolf sind zu entdecken. Virginia Woolf übrigens schrieb in einem Gartenhaus in East Sussex. Hier war sie ungestört – es sei denn, Ehemann Leonard sortierte im Stockwerk über ihr polternd Äpfel, die er im Garten ihres Monk‘s House gepflückt hatte. Auch Alex Johnson setzt in seinen Texten auf die Wirkung von Details.
Welch ein Vergnügen, in diesem Buch zu blättern. Loszulesen, wenn einen ein Bild besonders anspricht. Oder auch gezielt nach den Arbeitszimmern der Lieblingsautoren zu suchen. Diese Räume fanden sich nicht zwangsläufig in den eigenen vier Wänden. Inspiriert von Henry David Thoreaus „Walden“ schrieb etwa E.B. White in einem ehemaligen Bootsschuppen, der ziemlich genau die gleichen Maße hatte wie Thoreaus Blockhütte an einem See in Massachusetts. Eine Maus und ein Eichhörnchen leisteten dem Kinderbuchautoren Gesellschaft. Die ersten Harry-Potter-Bände schrieb J.K. Rowling in verschiedenen Cafés in Edinburgh, da sie es schätzte, in Gesellschaft zu schreiben. Als die jedoch mit einsetzendem Erfolg zu viel wurde, zog die Autorin zum Schreiben in Hotelzimmer.
Auf Gesellschaft beim Schreiben konnten die meisten anderen Autor*innen, deren Schreibwelten skizziert werden, gerne verzichten. Etwa Michel de Montaigne, der den Menschen für bedauernswert hielt, der „in seinem Heim keinen Platz hat, wo er sich selbst gehört“. Sprach‘s und zog sich in die Bibliothek im Turm seines Schlosses in der Dordogne zurück. Etwas origineller liebte es Charles Dickens. Er ließ für sein Haus in Kent und sein Londoner Tavistock House Buchattrappen anfertigen, allesamt mit Titeln wie „Katzenleben“ oder „Mag‘s Diversions“, wie ein früherer Arbeitstitel von „David Copperfield“ lautete.
Ach, so viel gibt es zu entdecken auf diesen 192 Seiten. Aber liebe Leserinnen und Leser, ich will nicht alles vorwegnehmen. Besorgen Sie sich dieses wunderbare Buch. Lesen Sie es. Schauen Sie es sich an. Genießen Sie es. Immer wieder. Und wieder.
Ja, ich weiß … da liegen noch einige Bücher auf dem Stapel der zu rezensierenden Bücher, die vor Hisashi Kashiwais Roman „Das Restaurant der verlorenen Rezepte“ eingetroffen sind. Ich wollte ja auch nur einmal kurz hineinschauen, ein bisschen darin blättern und das Buch dann wieder weglegen, ehrlich. Aber dann … was soll ich sagen, war der Tag um, der Abend war vergangen, und ich war auf der letzten Seite angelangt. Gibt es etwas Besseres über einen Roman zu sagen? Dass man alles über ihn vergisst. Dass man sich nicht lösen kann, ehe nicht die letzte Seite gelesen ist.
Unglaubliche zehn Jahre hat es gedauert, bis dieser Roman seinen Weg in der Übersetzung von Ekaterina Mikulich auf den deutschen Buchmarkt fand. Danke, lieber List-Verlag, dass du das möglich gemacht hast. Der Original-Titel dieses Kleinodes lautet „Kamogawa Shokudo“, eine simple Ortsangabe. Ein Shokudo ist ein japanisches Restaurant, in dem man Essen zum kleinen Preis bekommt. Ich vermeide in diesem Zusammenhang absichtlich das Wort „einfach“. Denn was Restaurantbesitzer Nagare Kamogawa und seine Tochter Koishi ihren Gästen servieren, ist an Raffinesse kaum zu überbieten.
Aber bevor es dazu kommt, müssen die Gäste erst Raffinesse zeigen, um das Restaurant in Kyoto zu finden. Zwar inseriert Nagare regelmäßig im Gourmet Insider, jedoch ohne eine Adresse anzugeben. „Wäre ja noch schöner, wenn plötzlich jeder hier aufkreuzen würde“, erklärt Nagare seinem ehemaligen Kollegen Kuboyama, mit dem er bis zur Pensionierung bei der Kriminalpolizei gearbeitet hat. Und tatsächlich kreuzt nicht jedermann im Kamogawa Shokudo auf, sondern nur die, die ein bestimmtes Anliegen haben. Das hat etwas mit Essen zu tun, aber auch mit Erinnerungen und manchmal auch mit offenen Fragen. Kuboyama etwa möchte noch einmal das Nabeyaki Udon essen, das seine inzwischen verstorbene Frau ihm immer zubereitet hat.
Nobuko möchte dagegen noch einmal den Rindereintopf mit Demiglace-Soße genießen, den sie vor über fünfzig Jahren in einem Restaurant gegessen hat, bevor sie dort einen Heiratsantrag bekam. Ihre Reaktion darauf war, dass sie das Restaurant Hals über Kopf verließ. Weder erinnert sie sich an den Namen des Restaurants noch an den ihres Verehrers. Ein unlösbarer Fall? Keineswegs. Nagare recherchiert nicht nur die vergessenen Namen, sondern auch die Umstände des gemeinsamen Essens. Also alle Komponenten, die den Geschmack eines Gerichts ausmachen, nach dem man sich sehnt. Wie die Wartezeit. „Diese Zeit fließt mit in den Geschmack ein. Außerdem hat heute garantiert auch ein Gewürz namens Erinnerung seinen Teil beigesteuert“, erklärt Nagare.
Es kommen noch andere Gäste ins Kamogawa Shokudo – und niemand wird enttäuscht. Man begleitet gerne die Rituale, mit denen Nagare und Koishi ihre Gäste begrüßen, sie bewirten, befragen und ihre Sehnsuchtsgerichte kochen. Mit Respekt, Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl, das auch Hisashi Kashiwai beweist. Noch viel mehr Gäste möchte man ins Kamogawa Shokudo begleiten. In Japan sind längst die Fortsetzungsbände dieses wunderbaren Erstlings erschienen. Bitte, lieber List-Verlag, lass sie auch in der deutschen Übersetzung folgen.
Die rosarote Brille muss ich verlegt haben. Gerne würde ich sie aufsetzen. Am liebsten immer. Um das Grau des Alltags farbiger zu gestalten. Oder gar nicht mehr wahrzunehmen. Keine Kriege. Keine Klimakrise. Kein stets aggressiver werdendes Miteinander, das längst zum Gegeneinander mutiert ist. Ein Mittel, um sich gegen die Schwere des grauen Alltags zu stemmen, ist die Kunst, vor allem (in meinem Fall) die Literatur. Und, nein, ich meine nicht die Art von Erzählungen, die alles Negative einfach wegspülen und eine heile Welt vorgaukeln, wie es in der Nachkriegszeit die Aufgabe der lustigen Schlagerfilme war. Aber es gibt ein Dazwischen. Und das suche ich. Das finde ich auch glücklicherweise immer wieder - leider nicht im Roman „Feuer“ von Maria Pourchet, der heute bei Luchterhand erscheint.
Worum geht es? Der Handlungsort ist Paris, das Paris von heute. Und das lässt bei Pourchet nichts mehr von der Faszination spüren, die Woody Allen seinem Protagonisten Gil im Film „Midnight in Paris“ gegönnt hat. Das liegt bei Pourchet einmal an den beiden Hauptfiguren, Laure und Clément, mit denen man nicht warm wird. Und das ist noch viel zu nett ausgedrückt. Ich könnte auch sagen: Ich mochte sie nicht. Und doch musste ich sie auf 320 Seiten begleiten, um jetzt diesen Text zu schreiben.
Laure ist Universitätsdozentin, verheiratet mit einem Arzt, mit dem sie eine kleine Tochter hat, Anna. Und dann ist da noch die ältere Tochter, Véra, fast volljährig. Sie hat von allem genug: der Schule, dass Frauen Männern hinterherrennen und sich keinen Deut darum scheren, dass sie sich dabei erniedrigen – wie ihre Mutter es tut. Die beginnt eine Affäre mit dem Bänker Clément, den sie für ein Kolloquium gewinnen will. Clément, eigentlich müsste Véra sich gut mit ihm verstehen. Sieht er doch (neben der Geburt) die Schule als Wurzel allen Übels: „Der Uterus und die Schule, danach ist alles im Eimer.“
Clément hängt nicht am Leben. Als er sich am Ostbahnhof vor einen Zug werfen will, erinnert er sich, findet er einen Welpen, den er „Papa“ nennt. Einmal um seine Mutter zu ärgern. Zum anderen weil sein Vater längst tot ist und der Hund ein wunderbarere Zuhörer ist. Der einzige, den Clément hat. Die Kapitel, die aus seiner Sicht in der Ich-Perspektive geschrieben sind, richten sich denn auch direkt an den Hund, der mit fünf Jahren unheilbar an Krebs erkrankt. Nicht, dass man noch auf die Idee kommt, hier einen tröstenden, versöhnlichen Handlungsstrang entdeckt zu haben, der Clément den Selbstmordgedanken aufgeben lässt, womöglich zu einem Happy End führt.
Laure darf nicht aus der Ich-Perspektive erzählen, sie bekommt die zweite Person aufgedrückt, das vertrauliche Du – und zwar von ihrer Mutter und ihrer Großmutter aus dem Jenseits. Ja, das ist recht originell. Eignet sich vielleicht als Beispiel für einen Schreibkurs, um den Teilnehmer*innen die Perspektive und ihre Möglichkeiten deutlich zu machen. Übrigens – auf das Gendersternchen verzichtet der Roman. Nur eine kleine lesbische Liaison in der Teenagerzeit mit ihrer Freundin Gabrielle wird Laure zugestanden. Und dass sie sich als Kind mehr wie ein Junge gefühlt hat, wird in einem Satz erwähnt. Für alles andere – ist sie wohl zu angepasst. Aber die Erwähnungen müssen wohl sein.
Ja, die Affäre zwischen Laure und Clément – „sie bedeutet mir eigentlich nichts, wir fangen bereits an, die Leere zu spüren, wir füllen sie mit allem Möglichen, hauptsächlich mit Wörtern, natürlich sagen wir einander, ich liebe dich, um die Langeweile zu vertreiben“, konstatiert Clément im Gespräch mit seinem Chef Oliver. Laure ist da weniger ehrlich, weniger konsequent. Ihr ist nicht klar, dass sie für die Langeweile, für ihre abgeschmackte „Love-Story“, letztlich für ihr Ego alles opfert. „Du bleibst noch, ja, Mama? Die anderen bleiben auch, sie stehen an der Seite und gucken zu“, hofft Anna, als Laure sie zu ihrer ersten Ballettstunde fährt. Nein, Kleines, schmink dir das ab. Mama hat die Tanzschule nur ausgesucht, weil ihr Lover in der Nähe wohnt, mit dem sie sich gleich treffen wird. Und, klar, sieht Laure auch gegen den sommerlichen Familienurlaub in der Toskana an, gegen die „nicht enden wollende Vereinnahmung deines mütterlichen Körpers“.
Geschafft. Aufatmen, als das Buch nach dem letzten Satz zugeklappt wird. Ein gutes Buch sollte nach dem letzten Satz im Kopf, in der Seele weiterleben, weitergesponnen werden. Bei „Feuer“ wünscht man sich das nicht. Man möchte es, im Gegenteil, schnell vergessen. Möchte einen Spaziergang machen. Einen Waldspaziergang. Soll ja reinigend sein und gut für die Seele. Dieses Buch ist es definitiv nicht. Muss es das denn sein? Muss Literatur uns guttun? Kunst muss gar nichts. Ich habe nur leider, wegen der Anhäufung von Büchern im Stil von „Feuer“, die Befürchtung, Literatur hat die Aufgabe bekommen, das Zeitgeschehen widerzuspiegeln, das da heißt: Pandemie, Krieg, Klimakrise, … Schickt es sich nicht, Lichtblicke einzuweben? Den Blick auf das Schöne zu lenken, Auswege aufzuzeigen? Es hat den Anschein.
Während ich gestern Abend an diesem Text schrieb, hat sich jemand in meiner zweiten Heimat Groningen von einem 45 Meter hohem Gebäude im Stadtzentrum gestürzt. Es wird (einmal wieder) diskutiert, ob die Medien darüber berichten sollen/dürfen. Die meisten tun es nicht. Aufklärung und Information versus Gefahr zur Nachahmung. Vielleicht sollte darüber auch im Literaturbetrieb mehr (oder überhaupt) nachgedacht werden, bevor Bücher wie „Feuer“ hochgelobt und mit warmen Worten angepriesen werden.
Ich bin wieder versöhnt. Wieder versöhnt, nachdem die Frühjahrsprogramme der Verlage mich fast zum Verzweifeln gebracht haben. Eine Niete nach der anderen trudelte bei mir ein. Ein aufgeblasenes Geschwafel ohnegleichen. Und dann kam Ende der vergangenen Woche dieses Buch: „Der Liebende“ von Martin Ehrenhauser.
Ein schlichter Titel, der sich aber gleich festsetzt im Kopf. Neugierig macht, Aufmerksamkeit fordert. Nun gut, dachte ich, schlug das Buch auf und fing an zu lesen. „In einer Nacht im Juni lag Monsieur Haslinger wach im Bett und lauschte durch die offenen Fenster in den Hinterhof.“ Wieder diese Schlichtheit. Wie schon beim Titel. Und wieder packt sie einen. Also weiter.
Die neue Nachbarin feiert ein Fest auf der Terrasse. Aber Monsieur Haslinger, Seelsorger im Ruhestand (sofern es den für diesen Beruf überhaupt gibt), ist nicht etwa erbost. Schmunzelnd überlegt er, wie es wohl wäre, einfach hinüberzugehen und am Fest teilzunehmen. Darüber schläft er ein, erwacht aber irgendwann wieder. Diesmal durch die Stille. Er tritt hinaus auf den Balkon und betrachtet den Brüsseler Mondhimmel, als ihn jemand anspricht: Madame Janssen, seine Nachbarin.
„Waren wir zu laut?“, fragt sie. Eine, genau, eine schlichte Frage. Und doch läutet sie etwas Großes ein: eine Liebe, eine große Liebe, die zwar nur wenige Monate dauert, dafür eine Intensität und Tiefe entwickelt, wie sie wohl nur selten zu finden ist. Wenn überhaupt. Vielleicht braucht es vor allem und ausschließlich die großen Autor*innen, um die große und wahre Liebe lebendig werden zu lassen.
„Der Liebende“ ist der Debütroman von Martin Ehrenhauser und, ja, ohne zu zögern würde ich ihn flugs in die Reihe der großen Autor*innen einordnen. Denn über die Liebe zu schreiben, ist vielleicht, nein, ganz bestimmt, die größte Herausforderung, der Schriftsteller*innen sich stellen können. Zu viel ist schon gesagt. Zu groß ist die Gefahr, wiederzukäuen, kitschig zu werden.
Davon ist in „Der Liebende“ keine Spur zu entdecken, nicht die geringste. Auf leisen Füßen schleicht sich die Liebe ins Leben von Monsieur Haslinger und Madame Janssen, die sich bald gegenseitig duzen und mit ihren Vorname anreden: Josef und Elise. Den Leser*innen wird diese Vertraulichkeit nicht gewährt. Für sie bleiben die zwei Liebenden Monsieur Haslinger und Madame Janssen. Aber das ist auch goldrichtig so. Ans Herz wachsen sie einem trotzdem. Oder auch gerade deswegen.
Brüssel und Knokke als Handlungsorte schmiegen sich sanft um die Geschichte, werden Teil von ihr. Bewundernswert, wie detailliert, mit welcher Liebe zum (manchmal ungewöhnlichen) Detail Martin Ehrenhauser die Kulisse schmückt, in der er seine Figuren agieren lässt. Sie leben, lieben, auch leiden und weinen lässt.
Wie die Geschichte von Monsieur Haslinger und Madame Janssen ausgeht – nein, das kann, das darf an dieser Stelle nicht verraten werden. Auf seine Art ist das Ende des Romans einerseits schlicht und alltäglich, andererseits aufwühlend. Aber am Ende bleibt ein gutes Gefühl, bleibt die Hoffnung. Und solange die sich behauptet, ist Leben da.
Ja, was soll ich sagen – ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen. Ein paar Tage ist das her. Und es klingt noch immer in mir nach. Die Dialoge zwischen Monsieur Haslinger und Madame Janssen, die kleinen Gesten ihrer gegenseitigen Wertschätzung und das Vertrauen darauf, dass es nie für irgendetwas zu spät ist.
Das Buch „Daisy Jones & the Six“ ist in der amerikanischen Originalausgabe bereits im Jahr 2019 erschienen, in der deutschen Übersetzung ein Jahr später, als Taschenbuch 2022. In diesem Monat erlebt das Buch eine Neubelebung durch die gleichnamige Mini-Serie auf amazon prime video, die das Buch auf Platz 1 in der amazon-Sparte Musikgeschichte – und kritik brachte. Ja, genau – Musikgeschichte und -kritik. Warum das zum Lachen (oder auch zum Weinen) ist … Nun, schauen wir uns erst einmal den Inhalt an:
Daisy Jones & The Six ist eine fiktive US-amerikanische Rockband aus den 1970er Jahren. Jahrzehnte nach dem Ende der Band führt eine Journalistin Interviews mit den Bandmitgliedern über Entstehung, Erfolg und Scheitern der musikalischen Karrieren. Die „Berichte über ein und dieselben Ereignisse, große wie kleine“ wichen doch sehr voneinander ab, schreibt die Journalistin in ihrer Vorbemerkung. Die Wahrheit liege in der Mitte.
Das mag die Begründung dafür sein, warum die (fiktiven) Gesprächsprotokolle allein zeitlich geordnet sind, ansonsten unredigiert hintereinander weg abgedruckt sind. Die Idee mit den Interviews soll der Geschichte Authentizität verleihen. Was auf den ersten Blick auch funktioniert. Auf den zweiten Blick merkt man sehr rasch, dass der Sprachduktus der einzelnen Personen sich doch sehr ähnelt, offensichtlich von nur einer Erzählerstimme getragen wird. Ja, und dann gibt es leider einige Passagen, die sich schlicht wiederholen. Passagen, in denen die (angeblich) verschiedenen Perspektiven nichts Neues bringen.
Dafür hätte man sich zwischen den Dialogen etwas gewünscht. Beschreibungen. Der Umgebung, der Personen, … Teilweise wird das durch die direkte Rede aufgefangen, aber doch mit recht unbefriedigendem Ergebnis. Das Ganze wirkt wie ein Theaterstück – nur, dass das dank der Regieanweisungen mehr Substanz erhält.
Aber, heh, Informationen, Substanz … wer braucht die schon? Wir wissen doch eh alle Bescheid über die Musikszene, oder? Insbesondere über die der 1970er Jahre. Da lautete die berühmte Formel: Sex, Drugs & Rock‘n‘Roll. Und die findet sich in „Daisy Jones & The Six“, womit der Roman alles hat „was ein gutes Buch über Popmusik braucht“, urteilte der Deutschlandfunk, von dessen Kulturkritiken ich sonst eigentlich immer viel gehalten habe. Wer Rock- und Popmusik mit dieser längst überstrapazierten Formel gleichsetzt, ist sehr oberflächlich und hat Null Ahnung. Aber wer das macht, bedient Klischees und bestätigt nicht wenige Menschen in ihrem Denken. Und das ist eine Erfolgsformel. Leider.
Denn was lernen wir seit Jahrzehnten über die Geschichte der Rock- und Popmusik durch Filme wie „Jailhouse Rock“, „The Rose“ oder „The Doors“? Die Gedanken von Rock- und Popstars kreisen allein um Affären und Liebesbeziehungen. Und die nehmen meist kein gutes Ende. Rock- und Popstars haben kein Selbstbewusstsein, lassen sich ausnutzen und sind ständig auf der Suche nach der passenden Droge: Der zum Vergessen. Der zum Wachwerden. Der zum Schlafen. Der gegen die Angst. Ach ja, nebenbei machen sie Musik (stimmt, da war doch was). Eine Ausbildung braucht es dafür nicht. Alles eine Frage der durch Drogen gelenkten Inspiration. Und der äußeren Attraktivität. Sex sells. Aber - ist ja auch egal. Man macht Musik schließlich nicht zum Selbstzweck, sondern um sich auf der Bühne feiern zu lassen. Und um sich dicke Autos und große Yachten leisten zu können. „Daisy Jones & The Six“ bietet hier wenig Originelles, nur einen weiteren Aufguss der ewig gleichen Klischees. Betrachtet man die Verkaufszahlen, funktioniert das Rezept. Wer in Musik mehr sieht als Sex, Drugs & Rock‘n‘Roll, dem sei von diesem Buch dringend abzuraten.
„Un jour ce sera vide“ heißt das Romandebut des in Paris lebenden Autors Hugo Lindenberg, für das er 2021 mit dem Prix Du Livre Inter ausgezeichnet wurde. Gestern, am 6. März, erschien in der Edition Nautilus die deutsche Übersetzung des Romans: „Eines Tages wird es leer sein“.
Vide, leer – dieses Wort beschreibt vielleicht auch am ehesten das Gefühl, das mich nach dem Lesen der letzten Seite überfallen hat. Das erste Wort, besser gesagt, die erste Äußerung zum ersten Roman von Hugo Lindenberg war ein langgezogenes Hmmm. Literaturpreis hin, Literaturpreis her – ja, der Roman hat seine Stärken, gewiss, aber auch (und vor allem) seine Schwächen. Doch der Reihe nach. Worum geht es in „Eines Tages wird es leer sein“?
Der zehnjährige Ich-Erzähler verbringt mit seiner Großmutter den Sommer am Meer. In der Normandie. Gleich im ersten Kapitel, das den Titel „Die Quallen“ trägt, trifft der Ich-Erzähler auf Baptiste. Der andere Junge nähert sich ihm am Strand, die Sonne im Rücken, was ihm etwas Entrücktes, Unwirkliches, Götterhaftes verleiht. Ich musste dabei an Tadzio aus Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ denken, gesehen aus der Perspektive Gustav von Aschenbachs. Aber schnell weicht die Verzauberung kalter Realität. Vorsichtig untersucht der Ich-Erzähler eine angeschwemmte Qualle mit einem Stock, will sie zurück ins Wasser bringen. „Oder sollen wir sie töten?“, macht Baptiste einen Gegenvorschlag. Der Ich-Erzähler lässt sich darauf ein. Widerwillig. Mit schlechtem Gewissen. Aber er opfert die Qualle „für das Versprechen einer Sommerfreundschaft“.
Beobachtete der Ich-Erzähler vor seiner Begegnung mit Baptiste das Leben anderer Familien am Strand, wird er nun dank seines neuen Freundes, eines „echten“ Jungen, Teil einer familiären Gemeinschaft, die für viele selbstverständlich ist. Nicht für den Ich-Erzähler, der sich nach einer richtigen Familie sehnt und sich für das, was von seiner noch da ist, schämt. „Ich hätte ihr Blut getrunken, um zu verstehen, wie es war, eine Familie wie alle zu haben. Eine Mutter, die dir den Rücken mit Sonnenmilch eincremt, einen Vater, der dich am Abend fest in die Decke wickelt und eine Geschichte erzählt.“
Für Sätze wie diese liebt man Hugo Lindenberg. Sätze voller Poesie und Details, die den 168 Romanseiten Leben einhauchen. Und dann gibt es Passagen wie folgende, über die man ins Grübeln kommt und sich fragt, wie ein zehnjähriger Junge so empathisch sein, sich so ausdrücken kann: Während der Ich-Erzähler seine Großmutter betrachtet, wird er traurig. „Eine Traurigkeit, die macht, dass ich gerne meine Jugend mit ihr tauschen würde, um ihr noch ein Leben zu geben, ein echtes Leben, in dem sie jemand anderes als ein zehnjähriges Kind an ihrer Seite hat, um über ihre alten Tage zu wachen.“
Ja, und dann gibt es Sätze, die man vermisst. Die einfach nicht da sind und einen ratlos und fragend zurücklassen. Welches Schicksal ist der Großmutter widerfahren? Und der monströsen Tante, die plötzlich auftaucht, die Ferienwohnung mit dem Gestank nach kaltem Zigarettenrauch und verfaultem Fleisch verpestet. Woher rühren ihre Verbrennungen dritten Grades? Wo ist die Mutter des Ich-Erzählers? Wo ist sein Vater, der manchmal erwähnt wird, aber nie im Hier und Jetzt auftaucht.
Nun sind Informationen im Roman immer ein Balanceakt. Was gebe ich weiter? Was deute ich an? Was lasse ich weg? „Eines Tages wird es leer sein“ lässt am Ende zu viele Fragen offen. Deutet zu viel mit zu wenig an. Vor allem am Ende. Nein, ich werde mich hier nicht genauer darüber auslassen, selbstverständlich nicht. Aber auch hier haben wir wieder die Frage der Balance. Neben der Frage, ob das alles als Bild oder ganz direkt zu verstehen ist. Ehrlich gesagt – eine Antwort habe ich nicht gefunden. Nur eines stimmt mich versöhnlich. Ein Fischer erzählt dem Ich-Erzähler, dass die Quallen, die an den Strand gespült wurden, eh längst tot sind – und nimmt damit nicht nur ihm eine große Last von den Schultern.
Assistentin Irlanda studiert bereits die Frühjahrsprogramme der Verlage. Wir sind gespannt auf ihre Auswahl.
„Das Songbuch unserer Liebe“/“Songs in Ursa Major“, Emma Brodie, List
„Das Songbuch unserer Liebe“ heißt der 432 Seiten starke Roman von Emma Brodie in deutscher Übersetzung, die im List Verlag erschienen ist. „Songs in Ursa Major“ lautet der ungleich schönere Titel im Original. Gut, Ursa Major, auf Deutsch der Große Wagen, ist nicht wirklich eingängig und sofort verständlich. Aber er trifft den Inhalt … und ist längst nicht so kitschig wie der deutsche Titel „Das Songbuch unserer Liebe“. Denn die Liebe, sie ist eigentlich ein Randaspekt in Brodies Roman. Und ob es sich bei dem, was Jane Quinn und Jesse Reid verbindet, wirklich um Liebe handelt, … nun, das ist eine Frage der Interpretation. In erster Linie ist „Songs in Ursa Major“ ein Künstlerroman, konkret ein Musikroman um die Protagonistin Jane Quinn, Sängerin und Frontfrau der Band „Breakers“. Von sich reden macht die Band, als sie beim Island Folk Fest auf Bayleen Island den Headliner vertritt: Jesse Reid. Eine traumhafte Karriere beginnt: Reids Manager wird auf die Breakers aufmerksam. Ein Album wird aufgenommen, eine Tournee als Vorband von Jesse Reid folgt. Und, ja, zwischen Jane und Jesse funkt es. Sie beginnen eine Affäre miteinander. Nennen wir es einmal so. Auch wenn es recht unromantisch klingt.
Überhaupt wechseln die rosaroten Wolken, auf denen die Breakers, vor allem Jane, schweben, beim genaueren Hinsehen rasch die Farbe, werden zu einem schmutzigen Grau. Die Musikszene der 1970er Jahre ist eine Männerdomäne (womit ich nicht sagen möchte, dass sich das heute kolossal verändert hätte). Und die begegnet Jane entweder mit Gleichgültigkeit oder mit Verachtung. Einen Bonus genießt sie nicht wegen ihres Talents, sondern weil Jesse sich in den Chefetagen für sie einsetzt. Und warum macht er das? Aus Liebe heraus? Oder weil die Affäre mit Jane, die er gerne öffentlich machen würde, gut für sein Image ist, von seiner Heroinsucht ablenken würde? Geschickt weiß Emma Brodie nicht nur hier die erzählerischen Fäden kunstvoll zu weben und Spannung aufzubauen.
Letztendlich zerbrechen sowohl die Breakers als auch die Beziehung zwischen Jesse und Jane. Letzteres geht klar von Jane aus, die inzwischen ihr erstes Soloalbum aufgenommen hat: „Songs in Ursa Major“. Sie trennt sich von Jesse, weil sie allein nach ihrem Talent und nicht nach dem Partner an ihrer Seite beurteilt werden möchte. Jesse hält das für ein Hirngespinst. Ruhm allein durch Talent – das hält er in der Musikszene für nicht real. Doch es geht nicht allein um Ruhm, Erfolg, Geld und Platzierungen in den Charts – es geht um die freie künstlerische und auch persönliche Entwicklung einer Frau. Und dafür opfert Jane viel, ja, alles. Nicht immer ist sie sich sicher, richtig gehandelt zu haben. Aber genau das verleiht ihr, verleiht dem Roman Authentizität.
Die Liaison zwischen James Taylor und Joni Mitchell habe sie zu ihrem Roman inspiriert, verrät Emma Brodie im Nachwort ihres Romans. Und tatsächlich finden sich einige Parallelen im Buch wieder. Und, ja, man hätte eine Rezension auch so aufbauen können, dass man genau diese Parallelen heraussucht, zerlegt und analysiert. Das sollen andere machen. Ich denke, ein Roman muss für sich sprechen und funktionieren. Und das tut „Songs in Ursa Major“ definitiv – auch wenn es ganz nett ist, nebenbei im Hintergrund James Taylors „You've got a friend“ zu hören, das ja eigentlich Carole King geschrieben hat. Aber das ist eine andere Geschichte.
„Das Tal in der Mitte der Welt“, Mlachy Tallack, Luchterhand
Die Shetlands – da denkt man zerklüftete Felsküsten, an Meer und atemberaubende Sonnenuntergänge. An Shetland-Ponys, an gemusterte Pullover, gestrickt aus der Wolle der freilebenden Schafe auf Fair Isle, wo auch die Strickmuster für besagte Pullover entstanden sind; entstanden an langen Abenden am offenen Kaminfeuer, die Klänge von Folkmusik im Ohr, den Duft frisch gebackener Plätzchen in der Nase. Solche und ähnliche romantischen Vorstellungen mag so mancher Shetland-Liebhaber von der Inselgruppe hoch oben im Norden Schottlands haben. Und mit genau diesen Vorstellungen räumt Malachy Tallack in seinem Roman „Das Tal in der Mitte der Welt“ auf. Und zwar von Anfang an, wo es um die bereits erwähnten Schafe geht. Die spenden nämlich nicht nur die Wolle für die berühmten Shetland-Pullover, sondern dienen auch als Nahrungsquelle. Und so beginnt das Buch mit der sehr detaillierten Beschreibung vom Schlachten und Zerlegen mehrerer Lämmer.
Das mag man als verstörend empfinden, gehört aber zum Alltag auf den abgelegenen Shetland-Inseln. Und genau diesen Alltag fängt Malachy Tallack, der selbst auf den Shetlands aufgewachsen ist, in seinem knapp 390-seitigen Werk ein. Dabei folgt er der jahrhundertealten Tradition des Nature Writing, das sich in jüngster Zeit wieder mehr und mehr großer Beliebtheit erfreut. Nicht der Mensch steht hier im Mittelpunkt des Schreibens, sondern die Natur, die nicht objektiv wissenschaftlich, sondern subjektiv von einzelnen Charakteren beschreiben wird, die sich darin verorten.
Und das sind bei Tallack eine Handvoll Leute: Sandy, der Taxi in Lerwick fährt und mit Emma zusammen ist. Emma stammt aus dem Tal, in das sie mit Sandy zieht und das sie nach der Trennung von Sandy wieder verlässt. In David und Mary, Emmas Eltern, findet Sandy gute Freunde. Nach dem Tod der alten Maggie zieht er in ihr Haus Gardie und schafft sich ein paar Schafe an. Überhaupt begegnen die Menschen aus dem Tal Fremden aufgeschlossen. Und da ist neben Sandy auch die Schriftstellerin Alice, die nach dem Tod ihres Mannes von York ins Tal gezogen ist, um über dessen Geschichte zu schreiben. Und die ist wenig spektakulär, wie Alice feststellt, als sie Maggies Tagebücher und Briefe sichtet. Das Wetter, der Garten, die Arbeit, das Essen – das sind die Dinge, die die Menschen im Tal beschäftigen. Aber das mehr als ausreichend. Was wächst im Garten, der sommers wie winters den Launen des Wetters, allen voran den heftigen Stürmen des Atlantiks ausgesetzt ist? Wie schützt man die Schafe davor, von den Klippen zu stürzen – und davor, sich in den Zäumen zu verfangen, die man zu ihrem Schutz aufgestellt hat?
Nicht alle kommen mit diesem einfachen, kargen Leben klar. Louise etwa verlässt ihren Mann Terry, der zu trinken beginnt. Die Neulinge Ryan und Jo wecken dagegen Hoffnung. David lässt sie für einen geringen Mietpreis im Red House wohnen, um ihnen den Start u erleichtern – bis er erfährt, dass die beiden ein großes Haus in der Stadt besitzen, das sie teuer vermieten. David ist enttäuscht, als er das erfährt, und kündigt den beiden. Unaufrichtigkeit lässt sich mit seinen Wertvorstellungen nicht vereinbaren.
Wie gesagt, die großen Geschichten rund um die ewigen Themen Liebe, Tod und Eifersucht finden wir nicht im Roman „Das Tal in der Mitte der Welt“. Und sie würden auch nur stören. Tallacks Werk ist eine Ode an die raue Natur auf den Shetlands, das das Leben der Menschen filtriert, es von ihrem ballst befreit und auf das Wesentliche reduziert. Und wenn man darüber ins Schwärmen gerät … warum nicht?
Hanns-Josef Ortheil zum 70. Geburtstag
Manchmal begegnen wir Menschen, die unser Leben prägen. Es wertvoller, intensiver machen. Für mich war und ist ein solcher Mensch Hanns-Josef Ortheil, der heute seinen 70. Geburtstag feiert. Doch der Reihe nach …
Mit 13 stand für mich fest: Nein, ich werde nicht Tierärztin, sondern Schriftstellerin. Die Idee für den ersten Roman stand, also flugs ans Schreiben. Flugs … ja, so begann es. Dann geriet das Projekt ins Stocken. Das Gleiche wiederholte sich zweimal. Woran es lag? Ich fand keine Antwort und wollte schon ins professionelle Musikbusiness einsteigen, als ein Freund (danke, Norbert!) mir von seinem Studium an der Universität Hildesheim erzählte. 1992 war das. Im selben Jahr begann Hanns-Josef Ortheil in Hildesheim kreatives Schreiben zu lehren. Ich bestand, jetzt wieder ganz flugs, meine Aufnahmeprüfung und konnte loslegen. Und wie.
Wie Kunststudenten, die mit ihren Staffeleien vor den Gemälden großer Meister sitzen und diese abmalen, begannen auch wir im Stil der Großen zu schreiben. Wir erreichten in Goethes Kutsche Rom, beschrieben akribisch à la Francis Ponge eine Zwiebel, sprangen mit Nicholson Baker in Zeitlücken, und, und, und. Wir variierten, kreierten, fanden unter schützender Hand unseren eigenen Stil, der niemals stagnierte, niemals stagnieren sollte – genau wie wir selbst. Ja, denn das Studium war mehr als ein Studium des Schreibens. Es umfasste die ganze Persönlichkeit. Automatisch. Nur zu gerne ließ man sich von Hanns-Josef Ortheils Begeisterung, seiner Neugierde, seinem Wissensdurst mitreißen. Das einsame Schreiben im stillen Kämmerlein? Ja, gewiss. Aber das ist doch nicht alles. Man muss hinaus. Muss schauen, muss hören, recherchieren, muss reisen. Unvergessen die zahlreichen Exkursionen. Nach Frankfurt, Magdeburg, Halberstadt, Weimar, nach Rom.
So voller Energie, so voller Lebensfreude erschien Hanns-Josef Ortheil mir stets. Umso größer dann der Schock, als eine schwere Herzkrankheit ihn vor zwei Jahren ausbremste. Und diese Herzkrankheit steht im Zentrum seines neuen Romans „Ombra“, der pünktlich zu seinem heutigen 70. Geburtstag erschienen ist. Ehrlich gesagt … ich habe gezögert, dieses Buch zu bestellen. Ein Buch, eine authentische Geschichte über eine erfahrene Todesnähe. Nein, das wollte ich nicht lesen. Und dann, Ende Oktober, tat ich es doch. Rasch, ja, flugs traf das Rezensionsexemplar vom Luchterhand Literaturverlag ein. „Ombra“. Zum einen ist es das italienische Wort für „Schatten“. Zugleich steht es aber auch für ein Glas Wein, das man in Italien zur Mittagszeit genießt. Ein Romantitel, wie er hier treffender nicht sein kann. Erzählt der Roman doch nicht nur (aber auch) von schwarzen Stunden, sondern mindestens genauso intensiv vom Aufbegehren, vom Kampf, wieder ans Licht zu kommen und die Schatten hinter sich zu lassen. Ortheils Appell an sich selbst auf Seite 169 „Klagen hilft aber nicht, klagen gehört abgeschafft!“ dient hier als Motto. Das und eine gehörige Portion Selbstironie.
Überhaupt der Witz – er kommt nicht kurz. Etwa bei der Schilderung der Gehmeditation am Kölner Rhein. Oder bei den Gesprächen mit den Eltern, die im Kopf des Schriftstellers ablaufen. Gespräche, in die sich, zum Verdruss von Ortheils Vater und zur Freude der Leser, schließlich auch Sigmund Freud einmischt. Auf Seite 298, der letzten Seite des Romans, frage ich mich, warum ich überhaupt gezweifelt und gezögert habe. „Ombra“ ist kein Roman der Dunkelheit, sondern des Lichts, des strahlenden Lichts. Klingt das jetzt übertrieben, pathetisch gar? Vielleicht. Aber eines ist klar: Heute Mittag wird ein Gläschen Rotwein eingegossen (italienischen, was sonst!), und das erhebe ich, um Dir zu gratulieren, lieber Hanns-Josef. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für die nächsten Jahre und Jahrzehnte.
„Venedig im achtzehnten Jahrhundert“, Philippe Monnier, Die Andere Bibliothek
Es ist jedes Mal ein kleines Fest: das Durchblättern der neuen Verlagsprogramme, das Bestellen von Rezensionsexemplaren, die dann peu à peu eintrudeln und gelesen und besprochen werden wollen. Ein wahrhaft großes Fest war es, die Neuauflage von Philippe Monniers Buch „Venedig im achtzehnten Jahrhundert“ aufzuschlagen, das als 436. Band in der Anderen Bibliothek erschienen ist. Alles auf einmal möchte man lesen und anschauen: die 14 Kapitel über die Serenissima in ihrer Blütezeit, die 34 Reproduktionen farbprächtiger und detailfreudiger Gemälde mit venezianischen Motiven aus dem 18. Jahrhundert.
Dichtkunst, große Komponisten und Maler, Theater, Mäzene, Sitten, Gebräuche und Gesetze und selbstverständlich der Karneval – Philippe Monnier zeichnet ein lebendiges Bild Venedigs, wie es sich im 18. Jahrhundert präsentierte. Es ist also kein staubtrockenes Sachbuch, das Monnier schrieb. Ein Roman ist es auch nicht. Aber es liest sich wie einer. Oder besser gesagt: Es ist das perfekte Interieur für einen Roman, für den Monnier einige Protagonisten anbietet: Gozzi, Goldoni, Casanova, … Aber wie schafft Monnier das? Er schreibt so, wie es Dozenten für kreatives Schreiben auch heute noch ihren Studenten raten: Er beobachtet, beschreibt, was er sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt und zwar so detailliert, dass man beim Lesen alles deutlich vor sich sieht. Etwa auf Seite 147, als Monnier von den Konzerten in den zahllosen Musikakademien Venedigs schreibt:
„Neben dem Kielflügel singt ein alter Abbé mit Geschmack. Oder eine zentildonna, Perlenschnüre in den Haaren, gibt Barkarolen zum besten. Oder es wird eine edle Symphonie gemeinsam gespielt. Die Dilettanten haben sich zu ihren Pulten gesetzt; sie haben die Schöße ihrer Röcke zu beiden Seiten des Stuhles fein säuberlich zurechtgelegt; sie haben ihre Spitzenärmel zurückgeschoben; sie haben auf dem Pulte die schöne handgeschriebene Partitur entfaltet. Und vor den andächtig lauschenden Zuhörern beginnt die Aufführung, ernst, langsam, feierlich und nur von zeit zu Zeit von einer Pause unterbrochen, in der man die Lichte schneuzt, die geigen stimmt und die Bogen mit Kolophonium einreibt; und die Schnupftabakdosen machen die Runde.“
Lebendige Schilderungen. Fürwahr. Aber auch gründliche recherchen. Denn Monnier war nicht etwa ein Zeitzeuge. 1864 in Genf geboren, war die Adelsrepublik Venedig, eine See- und Wirtschaftsmacht ohnegleichen, längst aufgelöst, war abwechselnd von Frankreich und Österreich besetzt, bevor sie 1866 schließlich an Italien ging. Da war Monnier gerade zwei Jahre alt. Später studierte er Rechtswissenschaften, arbeitete als Journalist, auch als Schriftsteller. Sein erstes Buch widmete er dem italienischen Quattrocento, bevor er sich auf das Venedig des 18. Jahrhunderts konzentrierte. Das fast 500 Seiten umfassende Werk erschien erstmals im Jahr 1907 in Paris, vier Jahre vor Monniers Tod. 20 Jahre später brachte der Münchner Georg-Müller-Verlag die deutsche Übersetzung heraus. Und, ja, nicht alle Begriffe und Namen sind uns heute noch geläufig. Aber sie werden im Anhang ebenso ausführlich erklärt wie venezianische Ausdrücke. Capperi etwa heißt potztausend!, vissere mie bedeutet mein Herz, mein Schatz! Es ist einfach ein wunderbares Buch, das man immer wieder in die Hand nehmen, darin blättern, darin lesen, darin versinken möchte!
"Die Kobra von Kreuzberg“, Michel Decar, Ullstein
Tja, das hat nicht so richtig geklappt. Kein Wunder, dass Beverly Kaczmarek zum Spottobjekt ihrer Brüder Yves und Billy wird. Während die beiden nämlich zwei Fabergé-Eier aus der Petersburger Eremitage geklaut haben und es damit auf die Titelseiten aller großen Zeitungen geschafft haben, hat es bei Beverly nur zu zwei Wedgewood-Vasen aus dem Potsdamer Marmorpalais gereicht. Und von den Vasen ist ihr bei der Flucht auch noch eine zerbrochen. Zu allem Überfluss gehörten die Vasen auch noch dem Nachtclubbesitzer Maximow. Ausgerechnet ihn braucht Beverly für ihren großen Coup, mit dem sie die Anerkennung der ganzen Familie gewinnen will: Yves und Billy, Großvater Sylvester und Vater Floyd und all die anderen, zumeist männlichen Kriminellen, die auf dem ganzen Erdball verteilt ihre krummen Geschäfte abwickeln, immer schick gekleidet in farbigen Trainingsanzügen.
Hanebüchene Biografien und schräge Charaktere, eine aberwitzige, temporeich erzählte Geschichte voller Überraschungen, garniert mit viel schwarzem Humor und Sarkasmus – das ist der neue Roman „Die Kobra von Kreuzberg“ des in Berlin lebenden Autors und Regisseurs Michel Decar. Im Zentrum des gut 200 Seiten starken Buchs steht Beverlys Vorbereitung auf Operation Q. Q steht für Quadriga. Und genau die will Beverly vom Brandenburger Tor klauen, um den Rest des Familienclans wie Deppen dastehen zu lassen. Unterstützt wird sie dabei vom Wetterterroristen Dragan Vidovic, der mit seinen negativen Wettervorhersagen die Berliner Politiker zur Verzweiflung bringt. Schlechtes Wetter schreckt schließlich Touristen ab. Was für einen Aufruhr wird erst eine verschwundene Quadriga auslösen?
Doch bevor es soweit ist, muss Beverly erst Maximow dazu bringen, dass sie die unterirdischen Gänge nutzen darf, die unter seinem Nachtclub entlangführen. Maximow stellt eine Bedingung: Beverly soll ihm ein Gemälde aus der Nationalgalerie stehlen. Gelingt ihr das, darf sie die Gänge nutzen. Dass er sie nach dem Raub von der ehemaligen Kugelstoßerin Tazzjana umbringen lassen will, verschweigt er erst einmal. Klar, dass es dazu nicht kommt. Ein grandioser Showdown, inklusive eines gewaltigen Unwetters, ohne die Hauptdarstellerin Beverly – nein, das geht nicht. Bevor es aber zu dem kommt, … nun, vorher müssen noch einige abstruse Dinge passieren. Mit den Berliner Wasserwerken, mit Kommissar Ferenc Hotfilter, mit Polizeipräsident Schulz-Lamar, … Jedes einzelne aberwitzige Detail hinterfragen zu wollen, nein, das würde das Lesevergnügen definitiv schmälern, wenn nicht gar zerstören. Am besten man lässt sich einfach darauf ein – auf Decars aberwitzige Ideen, sein Erzähltempo, ein Berlin jenseits aller Tourismusbroschüren, … Es lohnt sich!
„Wildes Paradies. Der Natur freien Lauf lassen und dafür reich belohnt werden“, Claudia Praxmayer, lübbe life
Gärtnern macht glücklich. Und gesund. Zu diesen beiden Schlussfolgerungen muss man kommen, schaut man sich das Cover des Gartenbuchs „Wildes Paradies“ von Claudia Praxmayer an. Ob es die Autorin selbst ist, die uns vom Cover unter ihrem Strohhut anlächelt? Das ist nicht so ganz klar. Klar ist nur, dass die Autorin die zahlreichen Farbfotos im Innenteil des Buches gemacht hat. Egal. Die blonde Frau, die ein paar frisch geerntete Zwiebeln samt Blättern und Wurzeln in den Händen hält, steckt uns an mit ihrer … ja, was … ihrer Zufriedenheit, ihrem In-Sich-Ruhen, ihrem inneren Gleichgewicht, das ihr aus den Augen strahlt, direkt überspringt ins Auge des Lesers, der dann sogleich das 224-seitige, reich bebilderte Buch aufschlägt. Schließlich möchte auch er so zufrieden sein, so in sich ruhen und so im Gleichgewicht sein wie die Frau auf dem Bild.
Also begeben wir uns auf die Reise, besuchen Claudia Praxmayer und ihre Familie, die sich im Chiemgau, zwischen München und Salzburg, ein altes Bauernhaus gekauft haben. Ein Bauernhaus mit einem großen, mit einem riesigen Grundstück, auf dem es Wiesen, einen Teich, Hügel, unzählige Pflanzen und Tiere … und noch mehr Arbeit gibt. „Ihr seid verrückt!“, war denn auch der Satz, den Claudia Praxmayer oft zu hören bekamen, als die den Hof kauften. Nun, und wenn das Ehepaar einen gepflegten englischen Rasen, auf dem kein Blättle liegen darf, akkurat gestutzte Buchsbaumhecken und ähnlichen Firlefanz lieben würde, ja, dann wäre es auf ihrem neuen Besitz vielleicht tatsächlich verrückt geworden. Aber die Praxmayer haben andere Ansprüche. Die Natur freut's.
Aus abgeschnittenen Ästen und zweigen werden Benjeshecken errichtet, Laub wird unter den Hecken verteilt. Neben Obstwiesen und Gemüsebeeten gibt es Brennnessel-Dschungel, Distelfelder und Brombeerhecken. Das sieht nicht nur schön aus, es sind auch Kinderstuben für zahlreiche Vogel- und Schmetterlings- und weitere Insektenarten. Naja, und Brennnesseljauche – es gibt keinen besseren Dünger, kein besseres Mittel gegen Blattläuse und anderes Krabbelgetier, das nicht so erwünscht ist – und alles ohne Nebenwirkung. Roundup ade!
„Wir greifen dort ein, wo es nötig iost, erschaffen neue Lebensräume, lassen die Natur machen, schauen staunend dabei zu und assistieren gelegentlich“, beschreibt die Autorin ihr Gartenkonzept. Und es funktioniert. Auch wenn Kamille, Borretsch und Dill sich ungehemmt vermehren, wächst und gedeiht das übrige Gemüse trotzdem – oder gerade deswegen. Und der Gärtnerin bleibt Zeit zum Beobachten – in zweierlei Hinsicht: als Aufforderung zu schauen und als Aufforderung, die Natur, die uns umgibt, zu achten.
Wer das macht, wer sich einlässt auf die Natur, kann sich und seinen eigenen Rhythmus nach ihr ausrichten. Das ist nicht neu, Gartenfreunden dürfte der phänologische Kalender ein Begriff sein. Er teilt das Jahr nicht in vier, sondern in zehn Jahreszeiten ein. Und er ist für Klimaforscher von großer Bedeutung. Lässt sich doch an ihm erkennen, wie sich der Klimawandel auf die Natur auswirkt. Pflanzen beginnen immer früher zu blühen. Zu früh für die Bestäuber. So die Gefahr. Aber noch kann sie bekämpft, wenigstens minimiert werden. Durch Gärten wie dem der Praxmayers. Und wenn Claudia Praxmayer uns Leser mit auf einen Spaziergang durch ihr Paradies nimmt, dann hat das nichts von einer Belherung mit erhobenem Zeigefinger. Dann ist das Genuss pur. Dann möchte man am liebsten gleich selbst hinaus ins Grüne, Hecken aus Totholz aufstapeln, Trockenmauern errichten, Hecken pflanzen, und säen, säen, säen. Und damit kann man auch gleich anfangen. Liegt dem Buch doch glücklicherweise gleich ein Samentütchen für eine Schmetterlingswiese bei. Also – nicht lange zögern und gleich hinaus damit.
„Reise mit zwei Unbekannten“, Zoe Brisby, Eichborn Verlag
„Reise mit zwei Unbekannten“ - ich muss gestehen, bei dem Titel des im Eichborn Verlag erschienenen Romans von Zoe Brisby fühlte ich mich zuerst an meine mäßig erfolgreiche Reise durch die Mathematik der Oberstufe erinnert. Aber gut. Der zweite Blick fiel auf den Klappentext des 414-seitigen Werks mit dem französischen Originaltitel „L'habit ne fait pas le moineau“: Die 90-jährige Maxine glaubt, wie ihr bereits verstorbener Ehemann, an Demenz zu leiden. Sie will nach Brüssel reisen, um Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Über ein Mitfahrportal gerät sie an Alex und seinen alten Twingo. An Alex, der an Depressionen leidet.
Hm. Erinnerungen an Mathematik, Demenz, Sterbehilfe, Depressionen – das sind nicht unbedingt die Themen, die ein unbeschwertes Lesevergnügen garantieren. Aber. Genau, wieder ein Aber. Denn dieses Buch mit farbigen Wellen auf dem Cover, einem schwarz-weißen Twingo, auf dessen Dach zwei Personen sitzen, von denen eine die Arme wie zum Jubeln in die Höhe reckt, übt einen gewissen Sog aus. Und außerdem … wer will sich schon von Vorurteilen und klischeehaftem denken leiten lassen? Nein. Also, einfach hineingesprungen in das Buch … um sehr schnell festzustellen, dass man mit dem Lesen einfach nicht mehr aufhören kann.
In der Pressemitteilung zum Roman steht, dass Zoe Brisbys Arbeit sich durch Humor und Herzensweisheit auszeichnet. Das ist keineswegs übertrieben. Und man möchte gleich noch ein paar Worte hinzufügen: Einfühlungsvermögen, Ideenreichtum, meisterlicher Umgang mit Worten und Formulierungen, … ach, schreiben wir doch gleich eine Ode und bemühen uns um die besten Superlative. Denn die hat sie verdient, die Autorin von „Reise mit zwei Unbekannten“. Mit Humor und viel Witz, aber stets respekt- und liebevoll gegenüber ihren beiden Hauptfiguren, schickt sie diese auf eine Abenteuerfahrt quer durch Frankreich.
Man fühlt sich beim Lesen mehr und mehr an ein klassisches Roadmovie erinnert. An eine Reise auf nicht enden wollenden Straßen, die zum Bild für eine Suche nach sich selbst wird. Oder hier: für eine Suche nach der Person, die man einmal war. So lässt Zoe Brisby Alex folgende Gedanken durch den Kopf gehen: „Igendwann musste doch auch ihm ein Funkeln in den Augen gelegen haben, wie es bei Maxine jetzt gerade der Fall war. Die Aufzählung der Abenteuer seiner Gefährtin rüttelte ihn wach. Er wollte zu sich selbst zurückfinden, zu demjenigen, der er eigentlich war. Und das war nicht der depressive junge Mann mit dem hageren Gesicht, auf den Maxine am Morgen getroffen war.“ Auch das typische Roadmovie-Motiv des Outlaws spielt in „Reise mit zwei Unbekannten“ eine Rolle – wenn auch augenzwinkernd und mit viel Ironie angereichert … und mit viel Originalität. Zoe Brisby hinkt keineswegs einem Genre hinterher. Es ist bestenfalls eine Grundlage für ihre Geschichte voller überraschender Wendungen und Entwicklungen, für die eine klare Leseempfehlung ausgesprochen werden kann und muss!
„Winter“, Ali Smith, Luchterhand
In genau einer Woche ist Heiligabend. Allerhöchste Zeit, sich um die einstimmende Lektüre zu kümmern. Bücher, die von Sternen erzählen, die am klaren Nachthimmel leuchten. Von Landschaften, die unter dicken Schneedecken verschwunden sind, und rehen, die hinter Tannen im angrenzenden Wald hervorlugen; angelockt vom lieblichen Klang der Weihnachtslieder, die die Familie vor dem festlich geschmückten Baum anstimmt. Dazu … Stopp! Wer sich in diese Weihnachtsidyllen flüchten möchte, was ja durchaus verständlich ist, ist bei dem neuen Roman „Winter“ der im schottischen Inverness geborenen Autorin Ali Smith total verkehrt. Freunde guter, da ungewöhnlicher Literatur sind hier dagegen goldrichtig.
Worum geht es im dem 320 Seiten starken Werk, das jüngst im Luchterhand Literaturverlag erschienen ist? Da ist einmal die ehemalige Geschäftsfrau Sophia, die sich zu Beginn des Romans überlegt, womit sie den körperlosen Kinderkopf unterhalten kann, der um sie herum schwebt. Sophia lebt allein in einem großen Haus in Cornwall. Genau in dem Haus, in dem ihre Schwester Iris vor Jahrzehnten mit anderen Gleichgesinnten hauste. Rebellen nannte man sie, die gegen alles protestierten, das die Menschheit und unseren Planeten bedrohte. Und das war so einiges, etwa die geplante Stationierung der ersten Cruise Missiles auf englischem Boden. Als Drittes ist da Arthur, Sophias Sohn, der in London lebt und mit seiner Freundin Charlotte die Feiertage bei seiner Mutter verbringen wollte. Leider hat Charlotte ihm kurz vorher den Laufpass gegeben. Und nicht nur das. Sie kennt das Passwort für seinen Twitter-Account und serviert seinen 3451 Followern eine hanebüchene Geschichte nach der anderen; etwa die von der im Schneesturm versunkenen Euston Road in London. Da ist es, das Thema „Schnee“. Schnee, den gibt es nicht mehr. Einen Tag vor Weihnachten misst man 11 Grad, und die Sonne scheint.
Die Klimaveränderung ist nur eines von vielen aktuellen Themen, die Ali Smith in ihren Weihnachtsroman einfließen lässt. Weitere sind die vom Plastik verseuchten Meere, Trump und Johnson, der Brexit. Es gibt noch viel zu tun für Iris, vielleicht sogar noch mehr als 30 Jahre zuvor. Und trotzdem besucht sie ihre Schwester; gerade zurückgekehrt aus Griechenland, wo sie sich um syrische Flüchtlinge gekümmert hat, und herbei telefoniert von Arthur, der sich Sorgen um seine Mutter macht. Dabei hat er genug eigene. Nicht nur wegen seines Twitter-Accounts, sondern auch weil er kurz vor seiner Abreise ein Mädchen namens Lux von der Straße aufgelesen hat, das er dafür bezahlt, sich über die Feiertage als seine Freundin Charlotte auszugeben.
Allesamt interessante Charaktere, die einen originellen, nicht vorhersehbaren Handlungsverlauf fernab aller Klischees versprechen. Als Lektüre für Heiligabend bestimmt nicht nach jedermanns Geschmack, aber in diesem Jahr vielleicht auch wieder genau deshalb passend.
„Normale Menschen“, Sally Rooney, Luchterhand
Was ist Liebe? Um diese große, um die vielleicht größte Frage der Menschheitsgeschichte, geht es im zweiten Roman „Normale Menschen“ der irischen Schriftstellerin Sally Rooney, der von Zoe Beck für den Luchterhand Verlag ins Deutsche übertragen wurde. Bei Liebesromanen fallen uns erst einmal die großen Klassiker ein: Vom Winde verweht, Jane Eyre, Anna Karenina, Stolz und Vorurteil, ... Und dann stellt uns Sally Rooney Marianne und Connell aus Carricklea im irischen County Sligo vor und begleitet sie über vier Jahre: von Januar 2011 bis Februar 2015.
Mit Romeo und Julia haben Marianne und Connell auf den ersten (auch nicht auf den zweiten) Blick wenig zu tun. Marianne kommt aus einer wohlhabenden, aber zerrütteten Familie, für die Connells alleinerziehende Mutter als Putzfrau arbeitet. In der Schule ist Marianne eine Außenseiterin, mit der niemand etwas zu tun haben will, während Connell, der denselben Jahrgang wie Marianne besucht, der Star der Fußballmannschaft und bei seinen Mitschülern (insbesondere seinen Mitschülerinnen) beliebt ist. Und genau diesen Status will er nicht gefährden, weshalb er seinen Freunden verschweigt, dass er mit Marianne eine Affäre hat.
Marianne macht das nichts aus. Ihr ist es egal, was andere über sie denken, die sie ohnehin verachtet. Abgesehen von Connell. Und er ist es, der sie schließlich an die Grenze des für sie Erträglichen führt, als er eine Mitschülerin fragt, ob sie ihn zum Abschlussball begleitet. Das könnte der Schlusspunkt der Geschichte von Connell und Marianne sein, aber ihre Wege kreuzen sich wieder. Und zwar auf dem Trinity College in Dublin. Nur, dass sich die Rollen hier vertauscht haben: Marianne hat viele Freunde, Connell hat Probleme, sich in die neue Umgebung einzufinden. Und wieder finden Marianne und Connell zueinander, nehmen Abstand, kommen wieder zusammen, … Gründe für die Trennungen sind Missverständnisse, Beziehungen, die mal Marianne, mal Connell mit anderen eingehen und die wegen Marianne bzw. wegen Connell wieder zerbrechen.
Rooney schaut ihren beiden Protagonisten dabei über die Schulter, ohne Partei zu ergreifen. Gut, manchmal kommentiert sie ein wenig zu sehr, auch manche Übergänge lesen sich etwas holprig und ungelenk. Aber sie lässt die Leser Mariannes und Connells Erfolge und Niederlagen mit erleben, lässt sie Depressionen mit erleiden, Trost spüren, den Marianne aber vor allem durch sich selbst findet. Mit Jamie und Lukas gerät sie an Männer, die Freunde daran haben, sie zu erniedrigen und sie glauben zu lassen, genau das zu verdienen, wobei sie sich „wie ein Kadaver“ fühlt. Dennoch ist sie stark genug, diese Männer aus eigener Kraft zu verlassen. Und vielleicht ist es genau das, was Connell an ihr bewundert: ihre Stärke und ihr Mut, sie selbst zu sein und sich gegen die breite Masse zu stellen, was andere als Provokation und als Aufforderung verstehen, sie zu unterwerfen und zu brechen. Und genau das ist es, was Liebe ausmacht: Den anderen das sein lassen, was er ist – und ihn dafür zu lieben.
„Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd“, Charlie Mackesy, List
Egal, ob man acht oder achtzig Jahre alt ist. Egal, ob einem gerade viele Gedanken durch den Kopf gehen und man zur Ruhe kommen will, ob es einem gut geht oder schlecht – es gibt immer, wirklich immer einen guten Grund, das Buch mit dem schlichten Titel „Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd“ von Charlie Mackesy in die Hand zu nehmen, es von vorne bis hinten durchzulesen oder einfach darin zu blättern. Auch das funktioniert. Dass auf Seitenzahlen verzichtet wurde, hat durchaus seinen Grund und seine Berechtigung. Und wenn einem nicht nach lesen zumute ist, macht es Spaß, einfach nur die Bilder zu betrachten. Denn „die sind wie Inseln, Orte, auf die man sich in einem Meer von Wörtern rettet“, wie es an einer Stelle im Buch heißt. Es sind Orte der Phantasie, denn Mackesys teils farbige, teils schwarz-weiße Illustrationen sind nicht bis ins Detail gezeichnet und lassen Platz für eigene Vorstellungen – aber auch für Gedankenspiele des Künstlers selbst. Etwa bei den Schwänen, die gelassen und perfekt aussehen, derweil – unsichtbar für den Betrachter – unter der Oberfläche wild gepaddelt wird.
Doch was erzählt das 128-seitige Werk des englischen Illustrators? Oder ist das die falsche Frage, um sich dem Werk zu nähern? Wahrscheinlich. Denn der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd erleben keine in sich abgeschlossene Geschichte, die sich langsam entwickelt, mit Spannungsbögen und anderen klassischen Erzählstrukturen arbeitet. Nein, als Betrachter oder Leser dieses wunderbaren Buches erhalten wir Einblicke in das Leben der vier Charaktere, deren Wege sich kreuzen. Wir erfahren, dass der Junge viel fragt, dass der Maulwurf Kuchen mag, dass der Fuchs still und auf der Hut ist, weil ihm das Leben wehgetan hat, und dass das Pferd groß und sanft ist. Aber vor allem erhalten wir Einblick in ihren großen Erfahrungsschatz. Nun kann man sich fragen, welchen Erfahrungsschatz ein Junge und seine drei tierischen Freunde denn schon haben können. Und tatsächlich handelt es sich hier nicht um philosophisch hochkomplexe Gedankenmuster, sondern um einfache, ja, banale Dinge, die aber doch elementar sind und vielleicht gerade wegen ihrer einleuchtenden Einfachheit im Alltag, beim Erwachsenwerden oftmals auf der Strecke bleiben.
Es geht um Einsamkeit – und wie sie endet. Es geht darum, hinzuschauen, Schwächen in Stärken umzuwandeln und zu wissen, dass es im Leben nicht um Materielles geht. Träume sollten immer wichtiger sein als Ängste. Und was Angst macht, kann trotzdem schön sein und Schutz benötigen. Das permanente Streben nach Erfolg, das Abarbeiten von Aufgaben sollte immer wieder unterbrochen werden, um nicht nur das zu sehen, was noch vor einem liegt, sondern auch auf das, was man bereits geschafft hat. Nichts ist selbstverständlich, und nur, wer die kleinen Dinge schätzt, die uns unmittelbar umgeben, ist gewappnet für die größeren Dinge. Das mag vielleicht alles naiv anmuten, ein bisschen jedenfalls, aber es schadet auch nicht, wieder mehr auf das Gute zu vertrauen, anstatt sich immer nur auf das Schlechte zu verlassen.
„Im Sog der fliegenden Fische“ von Friederike Krassnig, mit Mira Jana Krassnig
Zugegeben – viele Gedichte lese ich nicht. Ich schreibe auch keine. Jedenfalls so gut wie keine. Einmal musste ich während meines Studiums einen kleinen Ausflug in die Welt der Lyrik unternehmen … und erinnere mich noch gut an das süffisante Lächeln, mit dem mein Dozent mir das Werk zurückgab. Ein anderes Mal fragte ein befreundeter Musiker, ob ich Texte für ihn schreiben könne. Ja, antwortete ich, aber nur französische Texte. Auf Französisch klingt eben alles gut. Poetisch halt.
Aber in diesem Jahr konnte ich bereits zweimal feststellen, dass es sie wirklich gibt: Lyrik, die einen packt. Lyrik, vor der man ehrfurchtsvoll auf die Knie gehen möchte. Weil sie in 20 Zeilen das zum Ausdruck bringt, wofür ich durchschnittlich 300 Seiten brauche. Weil sie nicht von untergehenden Sonnen und fröhlich plätschernden Bächlein spricht, sondern neue und originelle Bilder findet, die doch einerseits so einfach sind und andrerseits die Geheimnisse unseres Universums entschlüsseln. Und das in einer Sprache, in einem Rhythmus, der einen von der ersten Zeile an mitzieht, hineinzieht in einen Strudel, aus dem man gar nicht mehr auftauchen möchte; von dem man sich wünscht, er möge länger sein als 20 Zeilen. Wie die Gedichte von Gabrielle Alioth in ihrem Band „The poet's coat“ (der an dieser Stelle nur erwähnt wird) oder die von Friederike und Mira Jana Krassnig in dem Buch „Im Sog der fliegenden Fische“, das mir jüngst von den Kollegen des Europa Literaturkreises Kapfenberg zugeschickt wurde.
Die Sprache von Friederike Krassnig aus der Steiermark verwandelt Worte in Musik, wenn sie von Träumen schreibt, „die zum Himmel jagen und des Nachts an Sternen nagen“ oder vom „Klingen der Ringe im Baum“, von „Ästen, die knarren“ oder dem „wurzeltiefen Ineinandertraum“ von Pilz und Baum. Große Menschheitsthemen wie Sehnsucht, Trauer, Liebe oder die Endlichkeit des Lebens gehen immer wieder eine Symbiose mit der Natur ein, in der sie sich ausdrücken. Doch nicht alles ist metaphorisch zu sehen; etwa die Zeilen über den beginnenden Frühling oder der Abschied von Luna, der alt gewordenen Katze.
Auf den ersten Blick willkürlich wirkende Zeilenanfänge zerreißen die Sätze, wirbeln gewohnte Lesemuster durcheinander und setzen dadurch neue Schwerpunkte, lenken den Blick auf neue Sichtachsen, so dass Alltägliches an Gewöhnlichkeit verliert, an Tiefsinn und damit die Aufmerksamkeit des Lesers gewinnt.
„Im Sog der fliegenden Fische“ wurde ohne Verlag publiziert, ist aber unter der ISBN-Nummer 978-3-9500299-8-7 zu bestellen. Gefördert wurde die Herausgabe des Buches vom österreichischem Bundeskanzleramt und der Stadt Kapfenberg.
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